Leserbrief von Dr. med. Peter Wanner – Römerberg 5 a, 65366 Geisenheim
Weiter keine nachhaltige Strategie
Der jetzige zweite „harte Shutdown“ zeigt, dass sowohl die Bundesregierung als auch die Landesregierungen wichtige Entscheidungen wieder einmal zu zögerlich getroffen haben. Bereits 2012 wurde der Ablauf einer Pandemie mit einem Virus “Modi-SARS“ und die damit verbundenen Anforderungen in einer Bundestagsdrucksache detailliert beschrieben. Die in diesem Bericht genannten zentralen Handlungsfelder wie etwa der Schutz vulnerabler Gruppen mit FFP-2-Masken werden erst jetzt umgesetzt. Ein Langfristkonzept für diese Gruppen fehlt noch immer. Sich nur auf die anstehenden Impfungen zu verlassen ist grob fahrlässig und kostet Menschenleben.
Der Kommunikationsstil der Politik ist desaströs: „Unsere Appelle sind bei der Bevölkerung nicht angekommen“, hieß es zuletzt. Glühweinstände wurden kritisiert, ohne zu wissen, ob diese wirklich Ausgangspunkt eines starken Infektionsgeschehens sind. So vermittelt man den Eindruck, die Politik habe richtig entschieden, vielmehr sei die Bevölkerung durch Disziplinlosigkeit Schuld am Fortschreiten der Pandemie. Ehrlichkeit täte den Regierenden gut mit der klaren Aussage, dass man sich mit dem „Lockdown light“ verschätzt und im Sommer, gerade im Hinblick auf die Schulen und die medizinische Versorgung in den Krankenhäusern, wichtige Weichenstellungen versäumt habe.
Die wichtigste Frage bleibt aber weiterhin unbeantwortet. Was kommt nach dem Lockdown? Wenn die Politik am 4. Januar die Lager neu bewertet, muss schnellstmöglich eine nachhaltige Strategie als Ergebnis einer offenen Diskussion formuliert werden. Dazu gehört auch, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kollateralschäden klar zu benennen.
Die Welt hat sich geändert, es ist dringend an der Zeit, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie wir in dieser neuen Welt leben wollen, statt im Lockdown auf die Wirkung der Impfungen und die Rückkehr in die alte Normalität zu warten. Sprechen wie also endlich über eine Zukunft, in der Pandemien wie die gegenwärtige immer wieder auftreten können.
Es ist ohne Frage richtig, das eine verantwortungsvolle Politik in einer Zeit, in der Intensivstationen ihre Auslastungsgrenzen erreichen, mit schnellen Maßnahmen konsequent reagieren muss. Erstaunlich ist allerdings, mit welcher Selbstverständlichkeit ausgerechnet die Maßnahmen bedenkenlos umgesetzt worden sind, die das kulturelle Leben zum Erliegen gebracht haben, selbst ohne den Nachweis der Wirksamkeit und Angemessenheit dieser Maßnahmen zu führen. In diesen kulturellen Institutionen vom Theater, Kino, Stadion bis zur Straußwirtschaft, erlebt man die Vielfalt der sozialen Welt, sie sind Orte der Begegnung, hier ist Gesellschaft überhaupt existent. Eine Gesellschaft, die all das der Vermeidung von Ansteckungen mit Viren zu opfern bereit ist, wird sich nicht nur radikal verändern, sondern als Gesellschaft zerfallen. Gesundheit und die Minimierung des Gesundheitsrisikos als erste Bürgerpflicht führen unweigerlich zur Verödung der Welt, wie wir sie kennen. Darüber sollten wir miteinander diskutieren.